Mit État de siège (FR, IT, D 1972) knüpft Costa-Gavras an seinen drei Jahre zuvor entstandenen Film Z (FR, DZ, 1969) an. Wieder geht es um den verzweifelten Kampf gegen das emergente Böse: Einen Staat, der zu Gewalt und Mord greift, um seine inneren Gegner zu bekämpfen. Costa-Gavras greift hier reale Ereignisse und Spekulationen um Daniel Mitrione auf, der 1970 von den Tupamaros, der kommunistischen Guerilla in Uruguay, entführt und ermordet wurde. Während Z geradlinig und semidokumentarisch erzählt ist, was William Friedkin zu seinem „Induced Documentary Style“ in The French Connection (US 1971) inspirierte (Friedkin 2013: 163), nutzt Costa-Gavras in État de siège eine komplexe Collage verschiedener Rückblende-Techniken. Diese werden durch schmerzvolle, aggressive, prüfende und resignierte Blicke eingeleitet, welche den Zuschauer mit unterschiedlichen Perspektiven auf das Geschehen konfrontieren und so die Wendepunkte der Erzählung einleiten.

Bereits mit der Rahmenhandlung um die Trauerfeier für Philip Michael Santore (alias Dan Mitrione) setzt Costa-Gavras einen Bookend Flashback (Aronson 2010: 254-270) ein. Wenn wir während der Leichenbitterrede in die Gedankenwelt seiner Witwe abtauchen, verbindet Costa-Gavras den erzählerischen Rahmen mit einem Regret Flashback (ebd.): Wir erfahren, wie die gemeinsame Reise des Paars nach Lateinamerika begann, und sehen kurze Momente des Familienglücks, das nun im Tod des Mannes endete. Auf diese Weise stimmt uns Costa-Gavras auf eine Thwarted Dream Erzählung (ebd.: 278-286) ein. Wir wollen herausfinden, wie und warum das Abenteuer zum Alptraum wurde. Santore wird hier und durch die später gezeigten Recherchen eines Reporters als Enigmatic Outsider (ebd.: 287-300) eingeführt, dessen Geheimnis entschlüsselt werden soll.

Nach den Erinnerungen der Witwe beginnt durch eine weitere Rückblende die Haupterzählung. Sie wird durch die Großaufnahme eines Augenpaars eingeleitet. Es gehört einem Guerillero, welcher Santore vor dessen Entführung ausspäht. Während Santores Befragung im „Volksgefängnis“ der Tupamaros setzt Costa-Gavras illustrative Flashbacks (ebd.: 254-270) ein, welche die aufgebaute Erwartungshaltung auf den Kopf stellen. Denn wir erfahren, dass der scheinbar harmlose Entwicklungshelfer ein Geheimdienstagent ist, welcher die Militärjunta in Folter- und Verhörtechniken ausgebildet hat. Der Thwarted Dream verwandelt sich nun zu einer ebenso schmerzvollen Case History (ebd.: 278-286). Auch hier werden die Rückblenden durch Blicke eingeleitet. Es sind die Augen des Verhörers, die bohrend unter seiner Kapuze hervorstechen.

Während dem Enigmatic Outsider die Maske heruntergerissen wird und wir Stück für Stück sein wahres Gesicht kennenlernen, spitzt sich die fieberhafte Suche nach ihm zu: Polizei und Militär verhaften, foltern und ermorden Mitglieder der Tupamaros, um Druck auf die Entführer auszuüben. Es kommt zu einer strategischen Patt-Situation, durch welche sich die Guerilla gezwungen sieht, ihre Drohung wahrzumachen und den Gefangenen zu erschießen. Ein letzter Blick, der in die Zukunft gerichtet ist, beendet den Film: Nachdem Santores Sarg in ein Flugzeug geladen wurde, kommt sein Nachfolger auf dem Rollfeld an. Die müden und resignierten Augen eines Beobachters drücken die große Enttäuschung aus, denn sowohl die Opfer als auch die eigenen Taten scheinen umsonst gewesen zu sein. Das ist ein noch bittereres Ende, als es uns Costa-Gavras in Z zeigt. Denn dort blieben die Unterdrückten ethisch unbeschädigt, selbst wenn sie den Kampf gegen die Diktatur verloren.

Costa-Gavras, Etat de siège: Blicke
Abbildung 1 | Von Paranoia zur Resignation

Dramaturgisch geht es in État de siège um das Ringen zwischen Dominanz und Dominiert-Werden, den Konflikt zwischen Aktivität und erzwungener Passivität. Zu Beginn trägt die Guerilla noch sympathische Züge. Hierfür setzt Costa-Gavras komödiantische Elemente ein und entschärft damit die Gewalt der Entführungsszene. Denn die Fahrer, deren Autos als Fluchtwagen geraubt werden, reagieren erstaunlich unbeeindruckt, machen sich eher Sorgen um die richtige Bedienung der Gangschaltung und werden von den Tupamaros beinah fürsorglich behandelt. Die fröhliche Filmmusik in dieser Sequenz erzeugt beim Zuschauer ein positives Gefühl und verstärkt den Eindruck, dass wir hier einer „guten“ Sache folgen. Bereits der Name des Cues, den Theodorakis mit Pueblo en lucha („Volk im Aufruhr“) betitelte, weist darauf hin. Costa-Gavras verstärkt die Identifikation mit der Guerilla, indem er ihren Aktionen die Brutalität von Polizei und Militär gegenüberstellt: Schon in der Eingangssequenz, die wie ein Stummfilm funktioniert, wird die Übermacht der „Staatsgewalt“ deutlich: Sie ist beherrschend, wirkt hier aber noch beherrscht. Später werden die Ordnungshüter selbst zu Terroristen, die mit sadistischem Vergnügen foltern und morden. Die Angst vor dieser Kaltblütigkeit verführt den Zuschauer dazu, umso stärker mit den Figuren zu sympathisieren, die nach Wahrheit suchen, um die Gewalt des Staats als Machtdemonstration eines korrupten Systems zu entlarven und ihr so jede Rechtfertigung zu entziehen. Sie sind der Motor für die Case History und ermöglichen als einzige eine positive Identifikation. Das gilt für den Reporter wie für die Guerilla, weil jene eine „geordnete Gewalt“ verkörpern, die dem „Guten“ zu dienen scheint.

Doch anders als in Z, wo von vorneherein klar ist und auch bleibt, wer „gut“ und wer „böse“ ist, konfrontiert uns Costa-Gavras in État de siège mit zwei großen Enttäuschungen, indem er diese Trennlinie verwischt: Zunächst ist es die Entzauberung des Enigmatic Outsiders Santore. Schon hier fällt es uns schwer, den liebevollen Vater, der stets von seiner Familie begleitet wird, mit dem ruchlosen Folterexperten zusammenzubringen. Als die Tupamaros selbst zu Mördern werden, entzieht uns Costa-Gavras auch dieses emotionale Zentrum und hinterlässt eine unangenehme Leere. Das erklärt auch die emotionale Kälte dieses Films im Gegensatz zu Z. Wie geht das vor sich? Auf dem Höhepunkt der Krise macht Santore seinen Entführern ihre ausweglose Lage bewusst: Geben sie nach und lassen ihn frei, wird dies als Schwäche ausgelegt. Ermorden sie ihn, beweist dies ihre Verzweiflung. Ein strategisches Mühlespiel, bei dem sie nur verlieren können. In der nun folgenden Abstimmung der Tupamaros, die „demokratisch“ darüber entscheiden soll, was mit Santore geschehen wird, wiederholt ihr Anführer jedes Mal mit monotoner Stimme den auswendig gelernten Satz, dass es hierbei nicht um „persönliche Gefühle“, sondern um „ein rein politisches Problem“ gehe. Dadurch entsteht beim Zuschauer das Gefühl, als glichen sich die Unterdrückten ihren Unterdrückern an, indem sie ihre Menschlichkeit unterdrücken. Wir befinden uns plötzlich in einem Spiegelkabinett der Grausamkeit, welches uns bewusstmacht, dass es kein „gutes“ Ziel für Gewalt geben kann. Denn sie endet stets, und hier schließt sich der Kreis, bei einem Menschen, der um seinen Nächsten weint. Die Gegenüberstellung von Trauer und Aggression, welche sich in den Blicken der Witwe beziehungsweise des Entführers widerspiegeln, die beide auf Santore gerichtet sind, lässt uns nachempfinden, dass die Realität politisch motivierter Gewalt in zwei voneinander getrennten Wirklichkeiten nachhallt: Dem Kampf für das objektiv „Gute“, welcher „im Laufschritt der Geschichte“ (Baudrillard 1978: 50) zu einem kopflosen Aktionismus führt, und dem subjektiven Kosmos schmerzvoller Erinnerungen, der hinter den Zeitungsschlagzeilen verschwindet. Diesen Widerspruch zeigt uns Costa-Gavras auch, indem er Santore und seinen Verhörer aneinander vorbeireden lässt: Wer festgelegt, wo der Böse steht, wird blind für das Böse.

L‘Aveu (Das Geständnis, IT, FR 1970), in welchem der Regisseur die Erinnerungen des kommunistischen Politikers Artur London an den Slánský-Prozess verarbeitet, ergänzt Z und État de siège zu einem zunehmend pessimistisch gefärbten Triptychon. Dieser Film bildet eine Brücke zwischen den beiden anderen: Hier sehen wir bereits eine, wenn auch viel simplere, Rahmenerzählung, in der Artur Ludvik (alias Artur London) von seiner Verhaftung, Folter und Verurteilung im Schauprozess berichtet. Erneut spielt Yves Montand die Hauptrolle, muss diesmal aber imaginäre Verbrechen gestehen, die lediglich dem stalinistischen Verfolgungswahn entspringen. In État de siège greift Costa-Gavras grundlegende Motive der beiden Vorgängerfilme auf: Die Gewalt einer Diktatur, die Paranoia, das Verhör sowie die Niederlage gegen das emergente Böse. Er kombiniert sie durch eine komplexe Dramaturgie aus Blicken und Rückblenden zu einer Pathologie der Ideologie. Deswegen verwahrte sich Costa-Gavras später gegen eine Vereinnahmung seines Films als „Politisches Kino“, das auf Agitprop abziele. Umso tragischer ist die Tatsache, dass es nur fünf Jahre dauern sollte, bis die Terroristen der RAF, welche sowohl das Stadtguerilla-Konzept der Tupamaros idealisierten als auch État de siège zu ihren Lieblingsfilmen zählten, mit der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer eine blutige „Reinszenierung“ des Mitrione-Falls erschufen. Sie schielten auf État de siège, doch ihr Wahn endete bei L’Aveu.


Literatur

Aronson, Linda (2010)
The 21st-Century Screenplay: A Comprehensive Guide to Writing Tomorrow’s Films. Allen & Unwin

Baudrillard, Jean (1978)
„Geschichte: Ein Retro-Scenario“. In: KOOL KILLER oder der Aufstand der Zeichen. Merve, S. 49-56.

Friedkin, William (2013)
The Friedkin Connection: A Memoir. Harper Perennial.

Abbildungen

Titelbild + Abb. 1
Filmstills aus:Etat de siége. Costa-Gavras. FR, IT, D 1972