Die Coronavirus-Pandemie wirkt auf uns so bedrohlich, wie unsere Eltern die Kubakrise und unsere Großeltern den Weltkrieg erlebt haben müssen. Im Umgang mit diesem Ereignis treten verschiedene seelische Bewältigungsstrategien zutage. Diese weisen auf eine ideologische Krise hin, die schon vor Corona »virulent« war und nun in das Bewusstsein rückt.

 

Strategie 1: Kämpfen
Sprachbilder, die momentan gebraucht werden, offenbaren die inneren Vorstellungen: Politiker sprechen von einem Krieg, in dem wir uns befänden. Kliniken ringen darum, ihre Intensivstationen mit Beatmungsgeräten »aufzurüsten« und ihr Personal mit Schutzkleidung auszustatten, um »Kollateralschäden« zu verhindern. Wenn dann noch von Triage die Rede ist, wird die geistige Verknüpfung von Militär und Medizin perfekt. Diese Kriegsrhetorik ist eine seelische Ausgleichsbewegung. Denn in den Medien hören wir fortlaufend von der »fieberhaften« Suche nach einem Impfstoff und diesbezüglichen Neuigkeiten, die »viral« gehen. Das erzeugt eine immense innere Anspannung, die wegen der Ausgangsbeschränkung nur unzureichend körperlich abgeführt werden kann.

Strategie 2: Zusammenrücken
Wie immer in bedrohlichen Situationen fangen wir an zu beten. Diesmal in einer abgewandelten Form: Mit dem allabendlichen Applaus um 21 Uhr jubeln sich die Menschen selbst zu, bauen ihre innere Spannung ab und machen sich Mut, indem sie ein Gemeinschaftsgefühl beschwören. Denn wo ein gnädiger Gott uns nicht mehr retten kann, fallen wir in den archaischen Modus des Einssein mit dem Kollektiv zurück. In Zeiten des »Social distancing« wirkt dies umso befreiender. An der Momentaufnahme aus einem Kölner Stadtteil wird deutlich, worum es dabei geht. Statt zum Gotteslob greift man in die Plattenkiste: Von einem Balkon ertönt die Kölsche Hymne »He hält mer zesamme. Ejal, wat och passet. En unsrem Veedel« (Hier hält man zusammen. Egal, was auch passiert. In unsrem Viertel). Ein paar Meter weiter dröhnt das Lied »I will survive« aus Lautsprecherboxen. Das ist eine weitere Idee: Wir werden überleben, wenn wir zusammenhalten und uns unterstützen. Vom sicheren Balkon aus und in den Social-Media-Plattformen fällt die Solidarität leicht

Strategie 3: Überleben um jeden Preis
Parallel dazu tritt aber eine problematischere Bewältigungsstrategie zutage: Die viel diskutierten Hamsterkäufe, die entweder belächelt oder kritisiert werden, zeugen von einem rücksichtslosen Überlebenswillen, der nichts mehr mit Bedarfsdeckung zu tun hat. Die Panik wird hier gerade noch durch übertriebenes Habenwollen gebändigt. Ohnmacht in Handlung verwandelt. Doch in diesem Fall kämpfen wir nicht mit-, sondern gegeneinander. Das macht einmal mehr deutlich, wie zerbrechlich die Decke der Zivilisation ist. Ein unangenehmes Gegenbild zum beruhigenden Gemeinschaftsgefühl.

Strategie 4: Leugnen
Ein anderer Weg, mit der momentanen Situation umzugehen, ist das Beharren auf dem Bisherigen. Wenn sich Menschen entgegen aller Warnungen gruppenweise zum Bier im Park verabreden. Oder wenn sie ihre Hoffnung auf Experten setzen, die behaupten, es gebe gar keine Pandemie. Denn nichts ist mehr wahr, wenn alles wahr sein könnte, wie der Medienforscher Neil Postman bereits vor zwanzig Jahren im Hinblick auf die Informationsgesellschaft prophezeite.

Strategie 5: Umdeuten
Der Futurologe Matthias Horx begegnet der Angst, indem er die Gefahr gedanklich überspringt und sich eine bessere Zukunft nach der Pandemie ausmalt. Am Horizont sieht er die Möglichkeit heraufziehen, dass wir durch die »Krise« zur Selbstbesinnung kommen; von einer getriebenen zu einer reflektierenden Gemeinschaft werden. Horx suggeriert, dass wir uns nicht in einem Alptraum befinden, sondern gerade aus einem solchen erwachen, den wir bislang als Wunschtraum erlebt haben. In der Vorstellung verwandelt sich die existenzielle Bedrohung so zu einer Rettung. Das wirkt heilend.

Die Krise als Symptom

Mit Sicherheit wird die Coronavirus-Pandemie seelische und wirtschaftliche, vermutlich auch politische Spuren hinterlassen. Aber wenn wir unsere derzeitige Situation verstehen, geschweige denn einen Blick nach vorne wagen wollen, müssen wir zunächst viel weiter zurückschauen, als futurologische Gedankenspiele es tun. Zukunft kann nur aus der Herkunft heraus gedacht werden. Dafür ist der Blickwinkel der Psychohistorie geeigneter. Sie setzt sich mit den unbewussten Triebfedern hinter historischen Ereignissen und Jahreszahlen auseinander. Dadurch wird die verborgene Seite, das Seelische der Geschichte deutlich: Die tragenden Ideen, Widerstände und Ausklammerungen, die dann als lange Ruhephasen oder plötzliche Umbrüche in Erscheinung treten. Um unsere aktuellen Denkmuster zu verstehen, müssen wir uns zwei Entwicklungen bewusst machen, die unser Leben und Erleben nun schon ein halbes Jahrhundert lang prägen. Dann erkennen wir die Bewältigungsstrategien gegenüber der Pandemie als verschobene Symptome, die auf ein völlig anderes Unwohlsein hinweisen.

Die Privatisierung des Politischen

Die Kubakrise war der letzte große globale Schock, der hierzulande noch durch die Spiegel-Affäre verstärkt wurde. Keine 20 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg führten demokratische Staatslenker die Menschheit an den Rand eines Atomkriegs und ließen sie einen kurzen Moment lang in den bodenlosen Abgrund der globalen Vernichtung blicken. Durch diese Erfahrung zerfiel das Bild des Politikers als gutem Herrscher endgültig. Seitdem haben wir es nicht mit einer Politik-, sondern mit einer Politikerverdrossenheit zu tun. Denn als Reaktion auf diesen Schock entstand der Wille, das politische Handeln selbst zu übernehmen. Die Macht der Eliten sollte – wie im Urchristentum und der Aufklärung – zerschlagen und auf Millionen von Einzelpersonen übertragen werden. Das war die Initialzündung für subpolitische Gruppierungen, für Bürgerinitiativen, NGOs, die 68er-Bewegung sowie ihre extremen Ausläufer, die dann beispielsweise als RAF in Erscheinung traten. Doch die Begeisterung, welche diese Demokratisierung auslöste, verwandelte sich schnell in Frustration. Denn das große Ganze zerfiel zu abertausenden von Teilvisionen. Im Kampf um Einzelbedürfnisse wurde deutlich, wie komplex und verwoben die Realität ist. Und wieviel man eigentlich können und berücksichtigen muss, um die Alltagsrealität, geschweige denn eine Krise zu bewältigen.

Diese Entwicklung hat zu dem zentralen Problem unserer heutigen Kultur geführt, wie es der Kölner Sozialanalytiker Hermann-Josef Berk beschrieb: Sie weiß nicht mehr, wie sie sich ihrer selbst versichern kann. Zwar kann nun jeder Wahrnehmungen in einem Umfang machen, wie es vorher unmöglich war. Der Preis der neu gewonnenen Freiheit ist aber eine Orientierungslosigkeit, ein Nebeneinanderher-Leben, das Angst auslöst und schnell zu einem Gegeneinander werden kann. Uns fehlt eine verbindende und verbindliche Erzählung, die uns im inneren Kern zusammenhält. Die ausdrückt, wer wir sind, und nach welchen Werten wir unser (Zusammen-)Leben gestalten wollen. Und die uns zeigt, wofür es sich zu leben oder im Notfall auch zu kämpfen lohnt.

Ein Glaube daran, dass Politik und Wirtschaft die Gesellschaft sichern und steuern können, ist nicht mehr vorhanden und wurde durch die Weltwirtschaftskrise im Jahr 2008 noch einmal grundlegend erschüttert. Auch das erklärt, warum die Menschen heute trotz aller Beteuerungen, die Versorgung mit Lebensmitteln sei garantiert, Hamsterkäufe machen. Schon vor der Pandemie wurde die persönliche Selbstversicherung durch Konsum hergestellt. Entweder mit dem Erlangen von Luxusgütern, die den gesellschaftlichen Status markieren – der berühmte Dreiklang aus Haus, Auto, Kontostand. Oder durch ethischen Konsum, zum Beispiel von Bio- und Fair-Trade-Lebensmitteln, der das Haben mit einem Hauch von Sein parfümiert. In den letzten Jahren sind wir am Scheitelpunkt dieser Entwicklung angelangt. Politische und religiöse Extremisierung und ihre Verschwörungstheorien drücken das tief empfundene Bedürfnis nach Gemeinschaft und Orientierung aus. Ihr dunkler Begleiter ist aber die Paranoia und die damit verbundene Sehnsucht nach einem klar definierten Feindbild.

Der Mensch als Störfaktor

In dieser nun schon über ein halbes Jahrhundert andauernden Entwicklung und in der Leere, die sie hinterlassen hat, ist es der Informatik gelungen, sich als neues Heilsmodell zu etablieren. Doch das Versprechen, das sie uns anbietet, folgt einer perversen Logik: Alle Versuche, das »gute« Leben herzustellen und zu sichern, sind immer wieder in Krieg, Diktatur und Ungerechtigkeit gemündet. Nach diesen jahrtausendelangen Enttäuschungen über Offenbarungsreligionen, Aufklärung und die überfordernde Komplexität der Demokratie scheint es nur eine Erklärung zu geben: Gott ist ein schlechter Ingenieur, denn das menschliche Gehirn macht zu viele irrationale Fehler. Um nie wieder dem Wahn einer mordlustigen Ideologie zu verfallen, muss der »Störfaktor« Mensch selbst durch Messbarkeit und Objektivierbarkeit beherrschbar gemacht werden. Das hat über eine lange Entwicklungslinie zur Rationalisierung aller Lebensbereiche geführt, zu Qualitätsmanagement und Punktesystemen, die zum Beispiel das Gesundheitssystem von der Heilkunst zum abrechenbaren Handwerk degradiert haben. Doch die menschliche Seele und damit auch Kultur und Geschichte lassen sich nicht in Wenn-Dann-Beziehungen zwängen.

Die Krise als Chance?

Die Pandemie ruft uns in das Bewusstsein, wie verletzlich wir eigentlich sind. Und wie gleichgültig sich das Universum uns gegenüber verhält. So aberwitzig es ist, das Monster Weltwirtschaft durch ein paar mathematische Gleichungen bändigen zu wollen, so wenig nützt uns jetzt – da hat Horx recht – die Künstliche Intelligenz bei dem Kampf gegen ein Virus. Werden wir in der Not des Überlebens noch weiter auseinanderrücken? Oder wird es gelingen, dass wir uns eine neue Selbsterzählung geben, die uns wieder näher zusammenrücken lässt? Eines ist sicher – vor vielen Jahren stellte der Medienforscher Neil Postman in Bezug auf die Informationsgesellschaft mit großem Weitblick fest: »Wir können uns selbst nicht entkommen«.

 

Leseempfehlung

Hermann-Josef Berk
»Zum Erwachen der Psychoanalyse. Der zweite Weg der Aufklärung«. Urheber Verlag