Eine Kritik zu WACHT AM RHEIN

 

Der TATORT versteht sich als gesellschaftlicher Gradmesser. Zur sonntäglichen Primetime wird hier aufgegriffen, was den Deutschen unter ihren Nägeln brennt – ob es um Rockerkriminalität oder um die Dortmunder Neonaziszene geht. Mit dem ARD-Themenabend vom 15. Januar, der aus der TATORT-Folge WACHT AM RHEIN sowie der anschließenden Diskussionsrunde bei ANNE WILL bestand, wurde nun die Debatte um »nordafrikanische Intensivtäter« und den Rechtspopulismus auf die Agenda gebracht. Bereits im Sommer 2016 produziert, hat die neue TATORT-Episode eine große Aktualität. Denn ihre Story kann ebenso gut als Kommentar zum so genannten »Racial profiling« gelesen werden, das der Kölner Polizei nach ihrem jüngsten Silvestereinsatz zum Vorwurf gemacht wurde.

Zugestehen muss man dem Film, dass auch sein Setting realistisch ist. Gedreht wurde an diversen Schauplätzen in Kalk sowie dem nordafrikanisch geprägten Kiez der Taunusstraße im Nachbarstadtteil Humboldt-Gremberg. Beides so genannte Problemviertel am Ostrand der Millionenmetropole Köln, die bei der Untersuchung der Silvesterübergriffe von 2015/16 als Rückzugsraum der Täter in Verdacht kamen. Die Frage nach einem Zusammenleben oder Zusammenprall der Kulturen und sozialen Milieus in diesen Stadtteilen hat ihre Berechtigung. Ich erinnere mich an eine Anekdote, die mir mein Jugendfreund mit marokkanischen Wurzeln erzählte. Sie stammt noch aus der Umbruchphase der Taunusstraße vor etwa zwanzig Jahren. Er hatte ein älteres deutsches Ehepaar beobachtet, das etwas irritiert vor einem leeren Ladenlokal stand, in dem sich Jahrzehnte lang ein deutsches Lebensmittelgeschäft befunden hatte. Ein Zettel an der Fensterfront kündigte an, dass hier demnächst eine marokkanische Backstube eröffnen werde. Das Ehepaar kommentierte dies mit einem Kopfschütteln: »Afrikanische Bäckerei. Dat hat uns gerade noch jefehlt«. Auch wenn sich der neueste TATORT mit einer Verspätung von zwei Jahrzehnten diesem Thema widmet, will man seinen Machern zunächst herzlich zurufen: »Willkommen in Köln-Kalk«!

Nach den Silvesterübergriffen und der Diskussion um die Flüchtlingspolitik gibt sich der Fernsehkrimi Mühe, wirklich alle Aspekte zu integrieren: Hier prallen der linksalternative Hipster, der in dem »nordafrikanischen Intensivtäter« nur ein unschuldiges Mündel sehen will, und die Paranoia der »Wutbürger« zusammen. Sogar das problematische Frauenbild der Täter wird gestreift, indem die Autoren dem marokkanisch stämmigen Kleinkriminellen einen verachtenden Kommentar über ein Opfer sexueller Belästigung in den Mund legen. Zu guter Letzt dudelt dann noch eine Meldung zur Trump-Wahl aus dem Autoradio der Kommissare. All dies ein Versuch, die gesellschaftliche Debatte um Flüchtlingspolitik und Silvesterübergriffe in möglichst vielen Facetten aufzugreifen. Am Ende führt die Story jedoch auf die simple Moral hinaus, dass Ressentiments in Gewalt münden. Eine Auseinandersetzung mit der Frage, woher diese Denkmuster rühren, findet leider nur am Rande, in Nebensätzen statt. Der Film kreist letztlich um das Problem, wie der Staat sein Gewaltmonopol in der Konfrontation mit Organisierter Kriminalität und Rechtspopulismus behaupten kann, um Christian Buß‘ Kritik auf Spiegel Online aufzugreifen.

Das Problemviertel als »salad bowl«

Dabei wären die Schauplätze Kalk und Humboldt-Gremberg eine gute Gelegenheit gewesen, die Ursachen dieser Entwicklungen deutlich zu machen. Um sie zu verstehen, muss man etwas weiter in die Vergangenheit zurückblicken: Nach der Schließung mehrerer Fabriken Mitte der neunziger Jahre ging es bergab mit den traditionellen Arbeitervierteln. Sie waren bis dahin geprägt gewesen von einer grauen Industriekulisse sowie der Piefigkeit ihrer Bewohner, die jeden Samstag das Auto wuschen, pünktlich die Treppe putzten und ungefragt eine Coladose entsorgten, wenn sie vor ihrer Haustür liegenblieb.  Dies mag auf den ersten Blick uncharmant und engstirnig erscheinen, es war aber auch der Ausdruck einer bürgerlichen Substanz, die den Stadtteil zusammenhielt wie Mörtel die Mauersteine. Ein türkischer Kioskbesitzer, der wie ich in Kalk aufgewachsen ist, sagte mir einmal, er habe früher eine Gänsehaut gekriegt, wenn er von der Autobahn in unser Viertel abbog. Die Industrieschlote am Horizont verliehen ihm ein Heimatgefühl, das man so auch von Bewohnern des Ruhrpott kennt. Dieses Gefühl will sich bei vielen Kalkern inzwischen nicht mehr einstellen. Heute leben hier verschiedene soziale Milieus nebeneinander her – alteingesessene Arbeiterfamilien, Einwanderer aus vielen Nationen, Kunststudenten und Gentrifizierungsgewinner, um nur Einige zu nennen – zwischen denen es kaum Berührungen oder einen sozialen Zusammenhalt gibt. »Man kümmert sich nicht umeinander«, wie es der katholische Pfarrer Franz Meurer ausdrückt. In den Nachbarvierteln Höhenberg und Vingst versucht Meurer, alle Nationen, Milieus und Altersgruppen an einen Tisch zu holen, damit sie sich gegenseitig unterstützen. Das reicht von Ferienfreizeiten über Lebensmittelausgaben bis hin zu Jobbörsen für schwer vermittelbare Jugendliche. »Das Schlüsselwort lautet Nachbarschaft«, sagt Meurer. Denn in Höhenberg und Vingst gibt es kein soziales Zentrum. Orte der Begegnung und des Austauschs sind für die Jugendlichen der Kiosk an der U-Bahn-Haltestelle und für die ältere Generation der PENNY-Markt. In einer solchen Umgebung drohen zwei Gefahren: Ein Zusammenprall der Kulturen und der Zusammenprall sozialer Milieus. Bei der Recherche für einen Fernsehfilm über Rotlichtgangs im Kölner Osten sagte uns der Sozialarbeiter Gerd Saretzki: »Gewalt entsteht hier, wenn die arbeitslosen Bewohner der Hochhäuser auf die Eigenheime hinunterblicken«. Diesen Mechanismus hat der amerikanische Regisseur William Wyler bereits 1937 in seinem Film DEAD END thematisiert.

You can take the boy out of the ghetto …

Um Integrationsprobleme und die Dynamik von Problembezirken zu verstehen, ist aber nicht nur der soziale, sondern auch der psychologische Aspekt wichtig. Einer meiner Lieblingssätze des Psychoanalytikers Hermann-Josef Berk lautet: »Der Preis für Entwicklung ist die Aufgabe von Vorurteilen«. Auf den Tatort Problemviertel angewandt, bedeutet dies: Wenn wir uns bewusst machen, dass die Menschen dort durch kulturelle Traditionen geprägt sind, die bestimmte Denkmuster und dadurch auch Verhaltensweisen auslösen, die notwendig sind, um in Vierteln wie Kalk überhaupt leben zu können, dann klärt sich auch das Rätsel, warum sich manche Menschen nie dort hinausbewegen. Bevor die Integrationsarbeit beginnen kann, muss nämlich ein seelischer Treuebruch erfolgen (vgl. Berk 2000: 39-42). Das gilt für den Migranten- genauso wie für den deutschen Arbeitersohn. Das bedeutet auch, dass es mit Bildung, Wohnungsangeboten und finanzieller Ausstattung alleine nicht getan ist. Die Hinwendung zum Extremismus, sei er islamisch oder neonazistisch, ist kein Problem mangelnder Bildung.

Auch wenn es in Kalk keine Bürgerwehr gibt, greift die Fiktion hier ein reales Bedürfnis auf: Den Wunsch nach einem Heimatgefühl und nach sozialer Kontrolle. Es sind nicht die zugezogenen Studenten, die so empfinden, sondern die alteingesessenen Bewohner, die sich entfremdet fühlen. Die TATORT-Folge WACHT AM RHEIN zeigt auch, wie schnell diese Entfremdung in Fremdenfeindlichkeit umschlagen kann. Dabei wird vergessen, dass auch die Migranten ein Heimatgefühl als Schutzmantel mit sich tragen. Dies umso mehr, wenn ihnen das neue zu Hause keine Identität anbieten kann. In seinem Aufsatz SOZIALANALYTISCHE STREIFLICHTER beschreibt Klaus Mackscheidt, dass die Politik die Migrationsbewegung der 1970er Jahre vollkommen falsch verstanden hat. Damals herrschte die Idee vor, man habe mit ökonomisch kalkulierenden Menschen zu tun, die Kapital ansammeln und sich dann wieder zurückziehen (vgl. Mackscheidt 2000: 49 f.). Das ist die Vorstellung, die sich in dem Begriff »Gastarbeiter« ausdrückt und welche dann in Absonderung mündet.

All dies bleibt im aktuellen TATORT ausgeklammert. Statt Hintergründe auszuleuchten, erschöpft er sich in der Haltung, die katastrophalen Konsequenzen von Ressentiments aufzuzeigen. Das ist richtig und wichtig, doch ohne gleichzeitig die psychosozialen Ursachen zu benennen, weist der moralische Zeigefinger ins Leere. Dass dies nicht nur auf den Spielfilm, sondern auch auf journalistische Formate zutrifft, zeigt eine Offerte des Politmagazins MONITOR. Nach der Silvesternacht 2016/17 postete seine Social-Media-Redaktion einen alten Beitrag der WDR-Autorin Isabel Schayani. Bereits 2014 hatte sie auf die Tendenz zum »Racial profiling« aufmerksam gemacht. Um zu belegen, dass Deutsche viel seltener von der Polizei kontrolliert werden, fuhr die Reporterin allerdings in einen gut situierten Kölner Stadtteil und interviewte Bürger, die sich über die Frage nach Polizeikontrollen sehr erstaunt zeigten. Man hätte sich gewünscht, dass sie stattdessen nach Kalk oder in die Hochhaussiedlungen von Köln-Chorweiler gefahren wäre, um dort deutsche Jugendliche zu befragen. Das Ergebnis wäre wohl anders ausgefallen und hätte zu den Themen soziale Ungleichheit und Siedlungspolitik geführt. Einer solchen Berichterstattung muss man mangelnde Sorgfalt vorwerfen. Denn sie provoziert geradezu den Vorwurf einer Manipulation und spielt denen in die Hände, die ihre Wahrnehmung einer tendenziösen »Lügenpresse« bestätigt sehen wollen. Wenn in Europa das Gespenst des Rechtspopulismus umgeht als Gruselkabinett aus Wilders, Petry und Le Pen, dient der Blick auf die Oberfläche alleine jedenfalls nicht dazu, diese Geister auszutreiben.

Was bedeutet das für unsere Arbeit als Drehbuchautoren und Regisseure? Von Dokumentar- und Spielfilmen, die sich mit Integrationsproblemen beschäftigen, ist zu wünschen, dass sie dies nicht nur soziologisch, über äußere Konflikte abhandeln, sondern auch die psychologische Dimension offenbaren, indem sie die Denkbarrieren auf beiden Seiten als inneren Konflikt der Figuren oder Protagonisten darstellen. Sonst drohen sie, an dem Kernproblem der Integration vorbeizugehen.


Literatur

Berk, Hermann-Josef (2000): »Die Sozialanalyse und das Zeitgemäße«. In: Deutsche Gesellschaft für Sozialanalytische Forschung (Hg.): Sachstand: Theorie der Sozialanalyse. Köln. S. 30-48

Buß, Christian (2017): »Der neue ›Tatort‹ aus Köln im Schnellcheck«. http://www.spiegel.de/kultur/tv/tatort-heute-aus-koeln-wacht-am-rhein-im-schnellcheck-a-1128925.html [Internet-Quelle] [Abruf: 16.01.2017]

Mackscheidt, Klaus (2000): »Sozialanalytische Streiflichter«. In: Deutsche Gesellschaft für Sozialanalytische Forschung (Hg.): Sachstand: Theorie der Sozialanalyse. Köln. S. 49-58

Filme

Dead End. William Wyler. US. 1937

Tatort: Wacht am Rhein. Sebastian Ko. DE. 2017

Abbildung

Titelbild
© Holger Schumacher