Die Glaubwürdigkeitskrise der öffentlich-rechtlichen Medien und ihre Ursachen

 

Mitte Juni widmete sich die ARD in zwei aufeinander folgenden Beiträgen zunächst den Silvesterübergriffen und anschließend dem »Vertrauensverlust« ihres Publikums. Doch die gut gemeinte Offerte leistete keine Aufarbeitung, sondern geriet zur journalistischen Bankrotterklärung.

Man wollte ein Zeichen setzen gegen die schwelende Glaubwürdigkeitskrise der öffentlich-rechtlichen Medien. Gleichsam als Ouvertüre zum Hauptbeitrag schilderte die NDR-Reportage BÖSES NEUES JAHR, warum es den Ermittlungsbehörden so schwer fällt, die Täter ausfindig zu machen. Hierbei wurde aber auch ein journalistisches Kernproblem deutlich: Der Beitrag leistete keinerlei Einordnung der Geschehnisse, verriet nichts über die Ursachen des Silvestervorfalls und seine Wirkung auf das politische Klima, sondern erschöpfte sich in der Botschaft des machtlosen, aber gerechten Staates.

Die anschließende Dokumentation VERTRAUEN VERSPIELT? zitierte zunächst Verbalinjurien gegenüber Journalisten und kreiste in den verbleibenden 40 Minuten um die Frage, wodurch das Misstrauen des Publikums ausgelöst wurde und wie dem zu begegnen sei: Machte sich die »Vierte Gewalt« während des Ukrainekonflikts und der Flüchtlingskrise zu sehr mit der Politik gemein? Strahlen die Medien Bigotterie aus, wenn sie sich einerseits einen Maulkorb angelegen und gleichzeitig auf Langzeitarbeitslose einschlagen – also nach oben buckeln und nach unten treten? Wird zu sehr voneinander abgeschrieben, statt sorgfältig zu recherchieren? Oder ist die Ursache in der neuen Gegenöffentlichkeit durch soziale Medien und propagandistische Konkurrenzorgane wie COMPACT oder RT DEUTSCH zu suchen?

Diese Fragen sind wichtig, doch es erstaunt, dass sie erst jetzt gestellt werden. Auch das Fazit des Beitrags fiel furchtbar banal aus: Transparenz, Differenzierung, Authentizität, Bürgernähe, Jugendlichkeit lauteten die Schlagworte. Man möchte ein entschiedenes »Ja!« dahinter schreiben, auch wenn die Lösungsansätze, die als »Geheimnis«, gar als »Kulturwandel« (so der Chefredakteur des SPIEGEL) präsentiert wurden, so überraschend anmuten wie der Kern in der Kirsche. Nach einer Dreiviertelstunde blieb somit der Eindruck von Hilflosigkeit zurück, dem man attestieren muss: Analyse falsch und Therapie falsch.

Here we are now, entertain us!

Das Gefühl einer journalistischen Bankrotterklärung verfestigt sich, wenn man die Perspektive erweitert und die Ursachenanalyse etwas früher und genereller ansetzt als bei der Berichterstattung über die Flüchtlingskrise und die Silvesterübergriffe. Ende 2015 beschrieb die WDR-Redakteurin Sabine Rollberg in ihrem Statement zur Verleihung des Eine-Welt-Filmpreises NRW, wie sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk durch eine Fokussierung auf Regionales und Unterhaltung von den Problemen abwendet, mit denen wir in der globalisierten Welt konfrontiert werden. [1] Die Programmreform des WDR-Fernsehen, die im Januar darauf in Kraft trat, hat diese Ausrichtung zementiert: »Herzstück der Reform ist der Ausbau der regionalen Information: Nachrichten aus Nordrhein-Westfalen erhalten einen noch höheren Stellenwert als bisher«, war dazu auf der WDR-Website zu lesen. [2] »Wir verstehen uns als Sender für den Westen, für die Menschen in NRW«, begründete der WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn diese Entscheidung. »Wir werden aber auch weiterhin zeigen, dass das WDR Fernsehen Platz hat für neue und überraschende Ideen, gerade auch in der Unterhaltung. Das erwarten die jüngeren Zuschauergruppen von uns, die wir für unser Programm zurückgewinnen wollen«. [3]

Poetischer Journalismus

Der Schwerpunkt auf Regionalität und Unterhaltung hat also einerseits mit der Angst vor einer Abkehr der jungen Generation zu tun. Begegnet wird dieser Angst mit dem Wahn der Messbarkeit, dem Wunsch nach bestmöglicher Quote. Die Programmverantwortlichen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk handeln hierbei wie Mediaplaner aus der Werbung. Und sie behandeln ihre Berichterstattung wie Dialogmarketing: Es gilt, Streuverluste zu vermeiden und das Publikum in erster Linie mit den Sendungen zu versorgen, die es gerne sehen will. Wer Kinder hat, der weiß indes sehr gut, dass es alles andere als förderlich ist, ihnen jeden Wunsch zu erfüllen. Denn dann käme nie Gemüse auf den Teller, sondern von Montag bis Sonntag nur Pizza und Pommes Frites. Erziehung hat die Funktion der Entgiftung. Nun lässt sich ein erwachsenes Publikum nicht mehr erziehen, aber sehr wohl aufklären. In Paragraph 11 des Rundfunkstaatsvertrages heißt es:

»Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat in seinen Angeboten und Programmen einen umfassenden Überblick über das internationale, europäische, nationale und regionale Geschehen in allen wesentlichen Lebensbereichen zu geben. Er soll hierdurch die internationale Verständigung, die europäische Integration und den gesellschaftlichen Zusammenhalt  in  Bund  und  Ländern  fördern.  Sein  Programm  hat  der  Information, Bildung,  Beratung  und  Unterhaltung  zu  dienen«. [4]

Doch der Fokus auf das Regionale erinnert weniger an den gesetzlich vorgeschriebenen Bildungsauftrag, denn er vernachlässigt die Forderung nach Völkerverständigung und Integration. Vielmehr drängt sich der Vergleich mit dem Poetischen Realismus in der deutschen Literatur auf: Während die Industrialisierung der Bevölkerung in den großen Städten ganz neue Strukturierungs- und Abwehrmechanismen abverlangte, flohen die Schriftsteller in ihren Novellen und Romanen in die Provinz oder den Historismus: »Das Leben schildern, aber ohne Elend und Schattenseiten«, lautete das berühmte Motto von Theodor Fontane. Vor diesem Hintergrund könnte man den Trend zur Regionalisierung als »Poetischen Journalismus« bezeichnen.

Showdown statt Scharfsinn

Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen? War das WDR-Fernsehen in den Achtziger und Neunziger Jahren noch von Querdenkern und Systemrebellen geprägt, regiert heutzutage eine Generation von Redakteuren, die im Schielen auf die Quote ihren Vorgängern den Vorwurf macht, sie »hätten über die Köpfe der Menschen hinweg gesendet«, wie Sabine Rollberg es zitiert. Dieser Vorwurf ist nicht neu. Bereits vor zehn Jahren gab es bei arte die Initiative zur »Erweiterung des Kulturbegriffs«: Um von dem Unterhaltungsprogramm und den Spitzenquoten der Privaten nicht abgehängt zu werden, wurden zum Beispiel in der Spielfilmrubrik fortan nicht mehr nur Hitchcock und Pasolini, sondern auch Russ-Meyer-Streifen gezeigt, die in den Neunzigern noch dem Nachtprogramm von SAT.1 und RTL vorbehalten waren. Die ARD wiederum kopierte die erfolgreichen Auswanderer- und Schuldnerberatungssendungen der Privaten. Der Tiefpunkt dieses Trends war ohne Zweifel die denkwürdige Reportage »Nonne trifft Stripperin« auf dem Investigativ-Sendeplatz ard-exclusiv, die nicht die gewünschten Quoten, sondern höhnische Kommentare nach sich zog. Die Strategie der öffentlich-rechtlich verbrämten Kopien verfing nicht: Wer auf Dokusoaps oder Schlüpfriges aus war, griff doch lieber zur Fernbedienung und zappte um. Und während die Protagonisten nun auch in der ARD auswanderten, kehrten sie bei den Privaten schon wieder zurück.

Eine andere Neuerung, die den Dokumentarfilm betraf, war die Einführung des Erzählsatzes. Auch hochkomplexe Themen sollten im Exposé nun als Dreisatz formuliert werden: »Wir erzählen die Geschichte von Protagonist X, der das Problem Y hat, und am Ende steht Sieg, Niederlage oder Waffenstillstand. All dies garniert mit einer ausreichenden Portion an »Fallhöhe«. Was hätten Elmar Hügler oder Gero Gemballa wohl zu einem solchen Strickmuster gesagt? Wenn eine falsch verstandene Dramaturgie des Spielfilms auf dokumentarische Formen übertragen wird und dadurch Zuspitzungen von ihrem Sujet verlangt, wundert es nicht, dass Journalismus zum Boulevard verkommt, und Themen, die sich nicht in die Blaupause des Erzählsatzes oder eine Personalisierung pressen lassen, keine Öffentlichkeit mehr finden.

Vom Rotfunk zur Heimatmelodie

Heute hat sich die Situation noch verschlimmert. Der Fokus auf Regionales und Unterhaltung ist nicht mehr ausschließlich von einem Wettbewerbsgedanken getrieben. Das Argument der Quote fungiert auch als Rationalisierung für einen anderen, unbewussten Wunsch: Die große Sehnsucht nach Heimat. Woher kommt dieses Bedürfnis? Der Medienpsychologe Hermann-Josef Berk hat es prägnant formuliert: »Von Heimat erwarten wir eine Vereinfachung: Die Komplexität der Welt schrumpft auf das in meiner Macht stehende Handhabbare, so dass ein konfliktfrei gedachter Raum möglich wird«. [5] Das Fernsehprogramm könnte so schön sein – wären da nicht die Globalisierung, die Weltwirtschaftskrise und die neue Völkerwanderung, welche uns eindrücklich daran erinnern, dass wir nicht alleine sind in unserer Wohlstandsidylle.

Hinter dem Rückzug auf das Regionale steht also der Wunsch nach Identifikation. Das Erstarken der politischen Rechten ist ein Ausdruck dafür, dass die Idee Europa für viele unerträglich und auch unfassbar bleibt. Sie ruft Angst und Abwehr vor dem Verlust nationaler Identität hervor. Momentan wird dies noch durch die Flüchtlingsdiskussion verstärkt. Der Rundfunk reagiert darauf ebenfalls mit Abwehr: »In schwierigen Zeiten soll dem Zuschauer ein Stück Halt gegeben werden«, wie es der Journalist Peter Schran ausdrückt; denn »während  früher nur das ›Proletariat‹ keine wirkliche Heimat fand, so verlieren heute – im Zuge des kapitalistischen Globalismus – sogar die ›Patrioten‹ der Mittelschicht sukzessive den heimatlichen Boden unter den Füßen«. Statt die Bevölkerung bei ihrer Angst vor den neuen Herausforderungen zu unterstützen und Aufklärungsarbeit zu leisten, wird also ein Heimatgefühl evoziert, das nicht nur unzeitgemäß, sondern auch gefährlich ist: Wird Angst zu lange beiseitegeschoben, kehrt sie umso mächtiger zurück.

So unangenehm uns das ist – PEGIDA und andere Verschwörungstheoretiker zweifelhafter Pro-venienz sind auch ein Ausdruck dafür, dass es einen dringenden Wunsch nach Einordnung und Orientierung gibt. Die Rechte kann ihn so wirksam bedienen, weil sie sich mit ihrem Populismus gegenüber Politik und Medien als Tabubrecher geriert. Ideologien entstehen »nicht in dem Versuch, das ›Gute‹ zu erschaffen, sondern das ›Böse‹ abzuwehren«, wie es der Psychoanalytiker Jürgen Vogt formuliert. [6] Der Vorwurf der »Lügenpresse« ist somit eine doppelte Kriegserklärung: Sie soll eine kritische Auseinandersetzung verhindern, bringt aber auch das diffuse Gefühl zum Ausdruck, dass sich das Meinungsspektrum verengt hat.

Integration heißt: Stellung beziehen

Man wolle die Zuschauer nicht überfordern, heißt es in den Redaktionen. Das klingt so, als wollten uns die Programmverantwortlichen vor den Bedrohungen der Welt schützen. Das ist ein problematisches Selbstverständnis. Der Rundfunk ist nicht die Mutter der Nation. Ein wenig väterlichere Gefühle, die uns die Welt außerhalb des ödipalen Schutzraums zeigen, täten uns hier gut. Der Bildungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hat nämlich nicht nur eine pädagogische, sondern auch eine psychologische Funktion, die durch seine Bezeichnung verschleiert wird. Es geht um das Ausbilden und Trainieren der stellungnehmenden Funktionen: Krisen können nur bewältigt werden durch die Integration aller psychischen Kräfte und die damit verbundene Fähigkeit zur Transzendenz, wie Jürgen Vogt schreibt; »Die Alternative ist Kollaps oder Verrücktwerden«. Die Voraussetzung der politischen Integrationsarbeit ist also die Psychologische. Die dringendste Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist deshalb nicht, mit der nachwachsenden Generation zu schunkeln, sondern sie auf die Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte vorzubereiten und dadurch demokratiefähig zu machen.

Quellen

[1] Rollberg, Sabine (2015)
»Ein Plädoyer für den Dokumentarfilm im Fernsehen«. Statement zur Verleihung des Eine-Welt-Filmpreises NRW. Köln

[2] Westdeutscher Rundfunk (2015)
»Neues Programmschema ab 1. Januar 2016«. [Letzter Abruf: 01.06.2016]

[3] Ders. (2016)
»Rundfunkrat stimmt Programmreformen zu«. [Letzter Abruf: 15.07.2016]

[4] Die Medienanstalten (2016)
Rundfunkstaatsvertrag. [PDF] [Letzter Abruf: 15.07.2016]

[5] Berk, Hermann-Josef (2008)
»BDP – Heimat für Psychologinnen und Psychologen?«. Vortrag zur Tagung des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen. Köln

[6] Vogt, Jürgen (2003)
»Der Ursprung der Religion und die Mickey Mouse«. Statement für die Tagung der Deutschen Gesellschaft für sozialanalytische Forschung zum Thema: Der Islam: Bedrohung, Faszinosum oder Chance zur Selbstklärung. Köln

Filmbeiträge

Die Story im Ersten: Vertrauen verspielt? Wie Medien um Glaubwürdigkeit kämpfen.
Norddeutscher Rundfunk. 2016. Autoren: Bastian Berbner, Sinje Stadtlich

Exclusiv im Ersten: Böses Neues Jahr. Die Suche nach den Silvestertätern.
Norddeutscher Rundfunk. 2016. Autoren: Britta von der Heide, Jan Liebold